Brief von Gerd – Lieber Daumen!

Sitze im Zug und tue das, was ich mit am liebsten mache. Ich beobachte Menschen. Dazu ist der Zug ein idealer Platz. Neben mir sitzt eine junge, hübsche Frau. Sie nimmt keine Notiz von mir. Sie erzählt einer Freundin per Handy, dass sie jetzt endgültig mit ihrem Stefan Schluss gemacht hat. Ich bekomme die ganze Geschichte über die „nachgelassene grosse Liebe“ live mit. Diese Story wäre allein schon einen Brief von Gerd wert.

  
Aber auf den heutigen Brief von Gerd bringt mich das andere Mädchen, noch jünger, noch hübscher, sicher noch Schülerin. Sie telefoniert nicht mit ihrem Handy, aber sie simst. Gibt es eigentlich noch junge Menschen, die sich am Morgen mit etwas anderem beschäftigen, als mit ihrem Handy? Also im Zug macht es den Eindruck, dass es solche Menschen, jedenfalls in unseren Breitengraden, nicht mehr gibt.
Und genau dabei beobachte ich sie – ich beobachte ihre Daumen. Unglaublich wie schnell und geschickt sie über die Zahlenreihen ihres Handys fliegen. Jedes 1-3x schnelle, kurze Drücken auf die Zahlen hat seine Bestimmung und schon bilden sich Buchstaben, aus denen Wörter und danach Sätze werden, die zu ihrer SMS-Botschaft werden. Ich denke an die Daumen. Ist schon ein Wahnsinn – wie lange gibt es Menschen auf unserer Erde – Schätzungen sagen 200.000 Jahre – Und wofür brauchten all die Milliarden von Menschen bisher ihre Daumen? Richtig – um den Halt unserer Griffe zu verfestigen, um ihnen mehr Stärke zu geben. Unsere Vorfahren die Affen brauchen sie imme noch um fest zuzugreifen, beim Klettern und Springen von einem Baum zum anderen. Danach wurden die Daumen als Fingerabdruck verwendet, als unverwechselbares, einzigartiges Kennzeichen der Andersartigkeit unserer 7 Milliarden Brüder und Schwestern. Und jetzt – jetzt haben diese Daumen noch eine ganz andere Funktion bekommen.
Das junge Mädchen fasziniert mich – nicht wegen ihrem Aussehen – oder doch auch das fasziniert einen Mann, Daumen hin oder her – wieder ein eigenes Thema – nein, heute faszinieren mich ihre Daumen. Ich beobachte – sie kann das nicht nur umglaublich schnell, nein – sie kann es auch blind, schaut zum Fenster hinaus und schreibt gleichzeitig weiter. Schon toll zu was für Leistungen unser Hirn in Kombination mit unserem Körper fähig ist. Kein Computer der Welt wird je in der Lage sein, das Wunderwerk Mensch zu übertreffen. Ja – in einzelnen Disziplinen schon – natürlich kann ein Computer schneller Zusammenzählen als ein Mensch, aber in seiner Komplexität ist der Mensch unübertrefflich. Diese Daumen von dieser jungen Frau, beweisen mir das eindrücklich.
Zum Schluss noch eine Gerd These – Ich glaube heute sind diese Daumen die wichtigsten Finger unserer Hand. Nicht mehr der Ringfinger. Ich glaube diese Daumen unserer jungen Menschen „schliessen und beenden“ heutzutage mehr Freundschaften und Liebesbeziehungen, als die Ringfinger das heute durch „anstecken oder entfernen“ von Ringen machen. Willkommen in der schönen, neuen Welt.

In Gedanken – euer G.Ender